Lead Scoring, der falsche Prophet
Das Versprechen von Lead Scoring ist so einfach wie einleuchtend: Es geht darum zu wissen, wann eine Kunde kaufbereit ist. Und Signale sollen das Kaufinteresse messbar machen. Je mehr positive Messpunkte wir haben, desto kaufbereiter soll ein Lead sein.
An der Schnittstelle zwischen Leadgenerierung, Inbound Marketing und Marketing Automation ist Lead Scoring mittlerweile ein Standard-Instrument im B2B Marketing. Als B2B Agentur begegnen wir diesem Thema auch auf Kundenprojekten regelmässig.
Doch funktioniert Lead Scoring wirklich so gut, wie MarTech Firmen, Agenturen und CRM-Anbieter uns Glauben machen? In diesem Artikel nehmen wir das Thema kritisch unter die Lupe.
Wie funktioniert Lead Scoring?
Es gibt ‘gute’ Leads und ‘schlechte’ Leads. ‘Gute’ Leads haben bestimmte Eigenschaften. Diese positiven Signale kann ein Unternehmen identifizieren und den Signalen einen jeweiligen Wert zuordnen.
Dies wird typischerweise anhand von Punkten gemacht. Oftmals wird auch zwischen expliziten (Kontaktinformationen) und impliziten (Verhaltensweisen) Signalen unterschieden. Die Touchpoints gestalten sich etwa so:
- eBook Download: 3 Punkte [Implizit]
- E-Mail geöffnet: 2 Punkte [Implizit]
- Download Produkt-PDF: 5 Punkte [Implizit]
- Unternehmensgrösse zwischen 250 und 500 Mitarbeitern: 3 Punkte [Explizit]
- Besuch der Preise-Seite: 10 Punkte [Implizit]
- Unternehmenssitz in der Schweiz: 5 Punkte [Explizit]
Die Punkte werden dann zusammengezählt und in eine Kategorie eingeteilt. Die Kategorien sehen beispielsweise so aus:
- Weniger als 10 Punkte: Kein Interesse
- Zwischen 10 und 20 Punkten: Interessiert
- 21 und mehr Punkte: Hohes Interesse
Erreicht ein Lead eine bestimmte Punktzahl, erhalten Marketing oder Vertrieb eine Meldung und es werden bestimmte Handlungen eingeleitet.
Interessierter Lead → Automatisierte E-Mail Sequenz starten [Marketing]
Sehr interessierter Lead → Cold-Call [Vertrieb]
Je mehr Punkte, desto heisser der Lead. Und je heisser der Lead, desto höher die Abschlusswahrscheinlichkeit. So auf jeden Fall die gängige Theorie.
Doch dröseln wir das Ganze nun genauer auf.
Warum Lead Scoring mit der Realität wenig zu tun hat
Subjektive Scoring Kriterien
Gemäss Lead Scoring zeigt jemand, der die Preis-Seite aufruft, ein höheres Interesse als jemand, der sich nur eine Produktseite ansieht. Aus Marketing-Sicht macht die Verbindung intuitiv durchaus Sinn:
Preis-Seite besucht = Kaufinteresse signalisiert
Doch wir sprechen hier lediglich von einer möglichen Korrelation und nicht von Kausalität.
Nicht jede Person, die eine Preis-Seite besucht, zeigt auch automatisch Kaufinteresse. Womöglich klopft ein Konkurrent die Preise im Markt ab. Oder jemand, der überhaupt nicht kaufbereit ist, da er oder sie erst vor 5 Monaten eine neue Software gekauft hat, schaut sich einfach die Preise anderer Software-Anbieter an. Diese Werte verfälschen die Messung (sogenannte False-Positives).
Auch das Gegenteil gilt: Nicht jeder Kaufinteressent besucht die Preis-Seite. Möglicherweise kennt ein Kunde die Preise schon und ist bereits vor dem Kauf so überzeugt, dass er direkt und ohne Umweg Kontakt aufnimmt. In diesem Fall ‘fehlt’ das Kaufsignal mit der Preis-Seite und der Lead ist trotzdem qualifiziert und ‘heiss’.
Genau so wäre es möglich, dass andere Faktoren ein erhöhtes Kaufinteresse ausgelöst haben, die mit der Preis-Seite direkt gar nichts zu tun haben:
Wir folgern: Preis-Seite besucht ⇎ Kaufinteresse signalisiert
Irreführende Punkte-Vergabe
In vielen B2B Firmen werden Leads immer noch händisch gescored. Ein eBook Download gibt 3 Punkte, ein Produkt-PDF Download 5 Punkte. Dies wird z.B. im CRM-System so eingegeben.
Doch worauf basieren diese Zahlen? Warum ist ein Produkt-PDF-Download fast doppelt so viel wert wie ein eBook Download?
Die Punkte entspringen fast immer subjektiven Beobachtungen oder ‘sind halt logisch’. Typische Aussagen hierzu sind:
“Je mehr PDF Downloads, desto mehr Sales Abschlüsse”
Kritische Gegenfrage: Auch die Anzahl vom Marketing-Team vertilgte Scholaden-Packungen korrelieren mit der Anzahl Abschlüsse vom Sales - machen wir nun mehr Abschlüsse, wenn das Marketing-Team mehr Schokolade isst? → Scheinkorrelation (ich habe in diesem Artikel ausführlicher über das Thema geschrieben).
“15% der Leads, die das Produkt-PDF heruntergeladen haben, kaufen unsere Software”.
Kritische Gegenfrage: Haben auch 15% der Leads, die die Software nicht gekauft haben, das PDF heruntergeladen? Wenn ja, welche Veränderung führen die PDF-Downloads dann herbei?
Ein weiteres Beispiel: Hat jemand wenig Punkte und kauft trotzdem - wie erklärt das Lead Scoring Modell diesen Kauf? → Ausreisser
Fingierte Linearität
Das Lead-Scoring Modell passt hervorragend in das ebenfalls kritisch zu betrachtende Demand Waterfall Modell.
Demnach bewegen sich B2B Käufer linear durch einen Funnel und durchlaufen einen rationalen, vorhersehbaren Kaufprozess.
Schaut man sich die Research von Gartner an, liegt die Erkenntnis nahe, dass lineare Funnels gerade im B2B nicht den realen Kaufprozessen entsprechen und Käufe meist viel mehr einem Wirrwarr aus zufallsbedingten, iterativen und vielstufigen Entscheidungsprozessen gleichen:
Bei obigem Diagramm tut sich die Frage auf: Wo genau ist der Lead denn nun kalt, lauwarm oder heiss? Oder verändert sich etwa der Aggregatszustand permanent, so wie sich etwa Eis in kochendes Wasser umwandeln kann?
Die Komplexität eines B2B Entscheidungsfindungsprozesses lässt sich mit subjektivem Punkte-Vergeben nicht abbilden und muss daher als Illusion betrachtet werden.
Lead-Scoring widerspricht diametral der 95/5 Regel
Die 95/5 Regel von Prof. John Dawes besagt, dass 95% des Zielmarktes in diesem Quartal nicht kaufbereit ist und lediglich 5% der potenziellen Kunden im Markt und aktiv auf der Suche nach Produkten sind.
Das Lead Scoring Modell unterstellt gleicht mehrere Dinge, die der 95/5 Heuristik widersprechen:
1. Positive Signale indizieren, wann ein Kunde kaufbereit ist
Hat jemand ausreichend Punkte ‘gesammelt’, ist er oder sie gemäss Lead Scoring Logik kaufbereit (high intent). Dies entspricht nicht der Realität. Ein Lead kann eine noch so hohe Lead-Score haben - ist der Prospect aktuell nicht im Markt, ist die Score obsolet, egal wie hoch sie ist. Potenzielle Käufer bewegen sich von selbst in den Markt und nicht durch unser aktives Zutun.
“(...) contrary to popular belief, you cannot persuade the buyer to go in-market because they already have what you’re selling and won’t need a newer version any time soon” (Quelle)
2. Kaufentscheidungen können mit Lead Nurturing beeinflusst werden
Wird ein Schwellwert überschritten und der Kontakt heiss genug, kann z.B. eine automatisierte Aktion, wie eine E-Mail-Sequenz, getriggert werden. Schenken wir der 95-5 Heuristik Glauben, können Käufer im B2B durch persuasive Marketingbotschaften nicht zum Kauf bewegt werden. Nudging mag im B2C als Strategie funktionieren, im B2B kauft jedoch niemand eine ERP Lösung, weil er gerade Lust darauf hat.
Fazit: Traditionelles Lead-Scoring ist eine Kontroll-Illusion
Die Sichtweise, dass durch die subjektive Bewertung möglichst vieler 'guter' Signale präzise Prognosen zur Kaufbereitschaft gemacht werden können, ist vermessen.
Digitales Marketing hat uns die Möglichkeit gegeben, einen (kleinen) Teil der Welt zu quantifizieren. Daraus zu schliessen, dass wir die Welt nun perfekt kennen und zukünftiges Verhalten 'prognostizieren' können, entbehrt der Realität komplexer B2B Kaufprozesse.
Es ist Hybris zu denken, dass die wahren Einflussfaktoren uns so leicht zugänglich sind und einfach den "Daten" abgelesen werden können.
"The world is not made up only of dry facts (that we might call data today); rather, these facts are glued together by an intricate web of cause-effect relationships".
Judea Pearl, The Book of Why
Gibt es Faktoren, welche die Kaufbereitschaft positiv beeinflussen? Auf jeden Fall.
Doch simplistische Marketing-Modelle wie das subjektive Lead Scoring helfen uns nicht dabei, diese Faktoren zu identifizieren, geschweige denn bessere Entscheidungen zu treffen.
Im nächsten Artikel widmen wir uns Themen wie Predictive Lead Scoring oder Holdout Tests, um zielgerichteter passende Leads zu identifizieren.
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